Eine Nachlese unseres Frühstücks-Salon zur Frage, welche – langfristige – Wirkung Corona auf Führungskräfte und Führungskultur hat
Mitte Oktober 2020, also fast auf den Tag genau sieben Monate nach dem Lock Down, baten Martina Friedl und ich drei HR/PE/OE-Expertinnen mit Führungsverantwortung sehr unterschiedlicher Organisationen zum Interview: Wie ging es Führungskräften während der Pandemie? Welches Führungsverhalten und welche Strategie wendeten sie an? Und vor allem, was davon wird überdauern und langfristig in die Führungskultur eingehen? Karmen Frena, Leiterin Personalentwicklung, Diversitäts- und Gesundheitsmanagement beim AMS Niederösterreich, Maria Ekl-Jürgens, Leitung Human Resources & Organizational Development bei Licht für die Welt und Anja Graf HR Generalist bei Magna Global IT berichteten über ihre Beobachtungen, ihren eigenen Führungsalltag und notwendige Unterstützung der Führungsebenen.
Auf der Suche nach dem (neuen) Gleichgewicht
Nach mehr als einem halben Jahr Führen in Zeiten von Corona zeigte sich den Expertinnen eine Mischung aus – teilweise gleichzeitiger – Über- und Unterforderung. Die Überforderung am Beginn der Krise im März und April 2020 durch die Umstellungen von Prozessen und dem Einrichten des Home-Office wich einer inhaltlich-persönlichen Überforderung, weil sich ganz neue Themen wie Kurzarbeit, permanente Erreichbarkeit, fehlendes Selbstmanagement und ein noch größerer Bedarf an Kommunikation auftaten. Unterforderung ergab sich bei jenen, die aus systemerhaltenden Prozessen im wahrsten Sinne herausfielen. Auch die beiden Pole der Führung – Vertrauen auf der einen Seite oder Kontrolle auf der anderen – sind noch nicht geklärt und bedürfen sicher eines Nachschärfens. So berichten die drei Expertinnen auch davon, dass Prozesse und Aufgaben seit der Krise entweder (wieder) stärker an eine Zentrale gebunden werden oder ganz im Gegenteil die Organisation agil wird und dezentrale Steuerungsmöglichkeiten einbaut. Für die kommenden Monate bedeutet dies, dass Organisationen an einem neuen Gleichgewicht arbeiten müssen zu individueller Über/Unterforderungen, organisatorischer Zentralisierung/Dezentralisierung und auch der Suche nach passenden stabilisierenden Führungsparametern.
Diese Beobachtungen teilen wir als Beraterinnen. Dass das Gleichgewicht sehr fragil bei einzelnen Führungskräften wie bei ganzen Organisationen ist, zeigt sich in leisen Stressmomente. In diesen werden minimale Anpassungen oder Irritationen noch immer aufgeregt diskutiert; aus unserer Sicht, weil die Suche nach der neuen Führungsstabilität erst am Beginn stehen. Prozesse neu zu denken, sich von Altem zu verabschieden, Vertrauen in viele Hände und auf mehrere Schultern zu legen, sind mögliche Antworten darauf.
Was jetzt: flexibel oder diszipliniert?
Beides meinten unsere Interviewpartnerinnen, denn die neue Flexibilisierung braucht Disziplin. An zwei Beispielen – der Zeitflexibilisierung und der Klient*innen-Erreichbarkeit – wurde die Gleichzeitigkeit beider Faktoren beschrieben. Aus dem Home-Office mehren sich die Berichte über fehlende Zeitlinien: Wann ist man „nur mehr“ zu Hause? Ist Büro-Alltag auch noch schnell und flexibel nach dem Abendessen und vor allem was macht man mit der Zeit, die sonst für die Fahrt zur Arbeitsstätte und retour gebraucht wurde? Ist das die neue Arbeitszeit plus? So sinnvoll und wichtig eine hohe Zeitflexibilität während einer Krise war, so sinnvoll und wichtig ist es „im neuen Normal“ dafür Zeitregelungen aufzustellen. Zur Orientierung, zur Abrechnung und vor allem auch, um die Selbstorganisation zu stärken. Am Beispiel das Klient*innen-Orientierung aus einer Organisation wurde schnell klar, dass nicht alles, was online ginge auch optimal ist. Beratungen und Dienstleistungen, die Barrieren überwinden müssen (seien es sprachliche, alters- oder bildungsbedingte) brauchen den Menschen vis à vis. Nicht nur die technologische Innovation, sondern Beziehungsaufbau und -pflege (als neue alte Innovation) wird wohl die Zeit nach der Krise am meisten prägen.
Gibt es noch was zu lachen?
Ohne Humor keine Krisenüberwindung. Dieses Credo hörten wir und die vielen interessierten Teilnehmende unseres Frühstücks-Salons mehrfach. Eine positive Grundhaltung von Führungskräften macht das Leben im Team leichter. Und ist ansteckend, hilft gegen Vereinsamung im home-office und baut die wichtige Beziehungsbrücke zwischen den Teammitgliedern oder zwischen den Mitarbeitenden und den Kunden (wieder) auf. Es bedarf keines großen Aufwandes, sich gemeinsam etwas Lustiges anzusehen. Wie etwa jenen Gabelstaplerfahrer aus den Niederlanden, der über zwei Minuten lachend durch eine Halle voller Toilettenpapier fährt. Das Video finden Sie hier.
Agil ist da und Selbstfürsorge kommt
Aus unserer Perspektive als Organisationsberaterinnen sind uns einige neue, interessante Aspekte aufgefallen, die wir hier teilen wollen:
- Ein Frühstücks-Salon ohne das Wort „agil“. Hätten wir das Wort „Agilität“ nicht eingebracht, es wäre beim Frühstücks-Salon nicht gefallen. Agil scheint plötzlich das Normalste der Business-Welt zu sein. Während wir gefühlt Jahre damit verbracht haben, agile Konzepte mit Organisationen zu diskutieren und nicht sicher waren, ob es jemals gelingen wird: Jetzt ist die agile Welt einfach da. Führungskräfte müssen ihren Teams Vertrauen und Verantwortung delegieren. Uns kam vor, dass es den Organisationen noch gar nicht bewusst ist, dass hier vielfach Disruption stattgefunden hat.
- Kommunikationsanforderungen an Führungskräfte steigen. In Zukunft wird die Pluralität der internen Kanäle zunehmen, sowohl online als auch offline. Führungsverantwortliche müssen diese Pluralität bewusst nutzen, um Botschaften über passende Kanäle mehrfach zu kommunizieren. Denn gerade die online Kommunikation erfordert eine höhere Präzision, um Missverständnisse zu vermeiden.
- Selbstfürsorge und Achtsamkeit rücken deutlich in den Mittelpunkt. Die problematische Trennung von Privat und Beruf wurde schon kurz erwähnt. Ein achtsamer Umgang mit den eigenen Ressourcen wird damit noch wichtiger, genauso wie Rituale zur Abgrenzung. Führungskräfte tragen hier Verantwortung für sich selbst – und für das Team. Auch für Organisationen werden sich hier neue Fragestellungen auftun, wenn es darum geht, die Vorteile dieser neuen Art zu arbeiten, für sich zu nutzen (z.B. in Bezug auf das Thema Vereinbarkeit von Beruf und Familie). Hierzu möchten wir auch in unserem nächsten Frühstücks-Salon anknüpfen, zu den wir am 27.11.2020 mit der Frage „Organisationen in der Vereinbarkeitsfalle?“ herzlich einladen. Alle Details zu diesem unseren vierten kostenlosen Frühstücks-Salon finden Sie hier.