Vom Fluch und Segen der Zeitflexibilität, von überkommenden Kulturmustern und wie HR gegensteuert
Der vierte Frühstücks-Salon des Team Breite Gasse von Martina Friedl und Gerhild Deutinger hatte aufgrund des zweiten Lockdown an Brisanz gewonnen: Wie gehen Organisationen mit dem Thema Vereinbarkeit um? Wie erleben Führungskräfte den Spagat von Work-Life-Family? Und wie können – im Sinne der Gesundheit der Mitarbeitenden – Konfliktpotenziale wie dauernde Erreichbarkeit oder Arbeit an Randzeiten nach Home-Schooling oder wenn Bandbreiten wieder offen sind aufgelöst werden?
Das Thema Vereinbarkeit selbst ist ja kein Neues. Schon vor der Pandemie mussten sich Singles, Paare, Familien und Organisationen die Frage stellen, wie sie die zur Verfügung stehende Zeit optimal aufteilen. Optimal so, dass weder die Arbeit noch die Familie noch das eigene Selbst – Stichwort Selbstfürsorge – zu kurz kamen. Die Balance war ohne Corona für manche schon schwer zu halten. Die beiden Psychologinnen (Masterstudierende an der Universität Wien) Magdalena Mayer und Maria Lena Mayer haben im Spätherbst 2019 potenzielle Copingstrategien von Zweiverdiener-Paaren untersucht (hier geht es zu den Folien). Ihre Ergebnisse zeigten, dass im „alten Normal“ eine Trennung zwischen Arbeit und Familie hilft, den Work-Family-Konflikt möglichst gering zu halten. Eine Trennung, die es für viele im Home Office seit März 2020 nicht mehr gab oder gibt.
Die beiden Wissenschafterinnen untersuchten weiters, welche Copingstrategie unter Stress welche Wirkung hat: eine hohe Familienorientierung („family first“) verschlimmert den Arbeit-Familien-Konflikt. Flexibilität als Strategie hat unter Stress einen verbessernden Effekt auf den Arbeit-Familien-Konflikt.
Vor diesem Hintergrund diskutieren wir mit über zwanzig Teilnehmer*innen in unserem Frühstücks-Salon, welche Wirkung Flexibilität in Zeiten des Lockdowns und danach haben kann. Die meisten Firmenvertreter*innen konnten über eine Zeitflexibilisierung während des ersten Lockdowns berichten: vom Abschaffen der Kernarbeitszeit zu vollkommenden offenen Zeitstrukturen bis hin zu Freistellungen für alle, die Kinder unter 14 Jahren betreuen mussten. Frauen haben zunächst diese Möglichkeiten mehr genutzt als Männer, was von einer Teilnehmerin als klassisches Rollenverteilungsmuster interpretiert wurde: „Männer arbeiten, Frauen arbeiten und betreuen“. Die Corona-Panels der Universität Wien zeigen ebenso einen Überhang der Care-Arbeit bei Frauen wie die Studien, die Martina Friedl beim Frühstücks-Salon zusammengefasst hat (-> hier zum Download). Kommen wir also in eine Re-Traditionalisierung?
Die Gefahr, dass das Instrument Freistellung Frauen nicht stärke und stütze, sind gegeben. Vor allem Frauen in Führungspositionen und Wissenschafterinnen fallen, wenn sie zeitliche Caring-Optionen ziehen, aus der internen und externen Wahrnehmung. Zeitflexibilitätwiederum führe bei sehr engagierten Mitarbeitenden dazu, dass die Überarbeitung zunimmt. Die ersten Beobachtungen der Zunahme von einer Burn-Out-Gefährungen liegen vor (lesen Sie dazu auch den Artikel „Autonom durch den Nebel?“).
Beim Gegensteuern durch die Organisationen zeigen sich noch keine einheitlichen Muster. Denn jeder Maßnahme liegt eine unmittelbare Gefahr inne. In Deutschland setzt man seit längerem – wie bei unserer Diskussion – auf noch mehr Zeitflexibilität. Gleichzeitig neigen Organisationen dazu, Frauen die Zeithoheit zur Erfüllung ihrer Caring-Aufgaben zu übertragen und nicht für neue Projekte oder Herausforderungen. Die Forscherinnen Heejung Chung und Yvonne Lott der Universität Kent beobachten in der Erhöhung der Flexibilität bei der Arbeit eine neue / alte Durchsetzung traditioneller Geschlechterrollen und eine Erhöhung der Geschlechterungleichheit.
In der Diskussion unseres Frühstücks-Salons wurde weiters die Bedeutung der unmittelbaren Führungskraft herausgestrichen; sie kann und soll beobachtend und steuernd auf einzelne Teammitglieder einwirken. Zu hoffen bleibt, dass damit Führungskräfte nicht überfordert werden, vor allem nicht jene, die als Personen selbst mit einer Vereinbarkeitsproblematik leben müssen. Mehr dazu auch in unserem Artikel Fürsorge im „next normal“.
Empfehlungen für mehr zum Thema:
- Am 9. Dezember 2020 veranstaltet die WU Wien eine Veranstaltung zum Thema verantwortungsvolles Führen. Mehr -> hier.
- Testlauf für eine App namens „swoliba“, die Mitarbeiter*innen unterstützt, im Homeoffice produktiv zu arbeiten und die eigene Erholung nicht zu vernachlässigen. Informationen erhalten Sie in diesem -> Video
Das Projekt wird in Zusammenarbeit mit dem Angestelltenbetriebsrat des Internationalen Flughafens Wien und der Forschungsgruppe INSO (Industrial Software) der TU Wien durchgeführt. Die Studie wird von der Arbeiterkammer Niederösterreich im Rahmen des Projektfonds Arbeit 4.0 gefördert. In dieser App findet sich eine Vielzahl an wissenschaftlich fundierten Strategien für die Arbeit im Homeoffice, die selbstständig in den Alltag integriert werden können. Der Testlauf ist für Personen und ganze Organisation möglich; die Erhebung startet im Jänner 2021. Nähere Infos Maria Magdalena Mayer (mayer@tuwien.at).